Das Windsystem


Die ewige Frage: "Wo kommt der Wind her?" - In der Theorie hat man/frau ja alles verstanden. So ziemlich wenigstens. Aber jetzt, mitten auf dem Wasser? Und weit und breit keine Fahne in Sicht. Oder doch? Vielleicht die auf dem Mast? Und wie war das noch, mit dem Wahren und dem Scheinbaren Wind?

Dabei ist alles so einfach!

Der Wahre Wind

Das ist der, den der Liebe Gott macht. Er sitzt irgendwo am Ufer und pustet vor sich hin. Man kann das ganz deutlich sehen: an den Wellen auf dem Wasser. Der Liebe Gott pustet über das Wasser, das sich zuerst nur leicht kräuselt. Aber bald entstehen kleine Wellen, feine Linien, genau quer zur Windrichtung. Meistens pustet er immer von der gleichen Stelle aus. Nur manchmal wandert er ein bisschen. Dann verändert sich auch das Wellenmuster. Es wandert mit. Immer quer zur Windrichtung. Er pustet auch ziemlich gleichmässig. Vielleicht mal etwas stärker, manchmal etwas schwächer. Dann werden die Wellen mit der Zeit entsprechend höher oder niedriger. Auf einem See kann man gut beobachten, wie bei einem Windstoss sich die Wasseroberfläche durch stärkere Bewegung dunkler färbt und dieser dunkle Fleck mit dem Windstoss über den See wandert. Hin und wieder macht der Liebe Gott eine Pause, um wieder Luft zu holen. Da wo sich ein solches Flautenloch gerade befindet, ist der See heller und manchmal spiegelglatt. Und wenn es mal gerade nicht windet, dann kommt der Wind mit hoher Wahrscheinlichkeit genau von der Seite aus wieder, wo er war, bevor er aufgehört hat, denn der Liebe Gott sitzt meistens immer noch am gleichen Ort.

Wir erkennen den Wahren Wind also an den Wellen, die quer zur Windrichtung liegen und langsam vor dem Wind herlaufen. Wenn wir in Landnähe sind und Fahnen am Ufer sehen, dann zeigen auch diese den Wahren Wind. Schiffe, die an einer Boje festgemacht sind oder vor Anker liegen, werden vom Wind weggeweht und dabei genau ausgerichtet. Ihre Spitze zeigt dann genau zum Wahren Wind hin. Zumindest, wenn der Liebe Gott genügend pustet - sonst stehen sie manchmal kreuz und quer...

Der Scheinbare Wind

Schliesse doch mal einfach die Augen und versuche, den Wind zu spüren. Drehe den Kopf hin und her, bis deine Nase genau zum Wind hin zeigt. Der Scheinbare Wind ist der, den wir im Gesicht spüren. Landratten machen den Finger nass und halten ihn in die Luft. Blinde sind oft hervorragende Segler, weil sie ein besonders feines Gespür gelernt haben.

Wir erkennen den Scheinbaren Wind also im Gesicht, an der Haut. Auch der Verklicker zeigt den Scheinbaren Wind. Aber natürlich nur, wenn er nicht krumm ist oder klemmt. Sonst verlasse dich lieber auf deine Haut. Auf manchen Schiffen hängen auch irgendwelche Fäden, Bändsel, Wäschestücke oder so ein Kram an Reling oder Wanten. Auch die flattern im Scheinbaren Wind. Und natürlich der Windmesser, der zeigt auch den Scheinbaren Wind.

Der Fahrt-Wind

Angenommen, der Liebe Gott macht gerade Pause und pustet nicht. Dann wäre es windstill. Wenn wir uns jetzt aber selbst bewegen, gegen eine stehende Luftmasse, dann spüren wir einen Fahrt-Wind. Er kommt von vorne und entspricht unserer Geschwindigkeit (Fahrt über Grund). Uns interessiert der Fahrt-Wind wenig. Wenn wir ein Auto hätten, dann wäre er wichtig für den Windwiderstand, den cw-Wert. Aber bei unseren paar Knoten...

Der Sinn des Ganzen

Wenn wir das verstanden haben - und es ist ja wirklich ganz einfach - dann wird die ganze Seglerei ein Kinderspiel:

Beim Manöver

Bei allen Manövern richten wir uns nach dem Lieben Gott. Uns interessiert der Wahre Wind. Zum Segelsetzen soll das Schiff "Im Wind" stehen, also mit dem Bug zu Lieben Gott hin zeigen. Beim "Aufschiesser in den Wind" drehen wir das Schiff mit Pinne oder Ruder so, dass am Schluss der Bug zum Wahren Wind hin zeigt. Das gilt für den "Aufschiesser zum Steg" mit der Jolle genauso wie für den "Aufschiesser an der Boje" und den "Aufschiesser zum Ankern". Wir orientieren uns am Wellenbild und kommen quer zu den Wellen zum Stehen. Beim Start zum "Rückwärtsfahren" stehen wir im Wahren Wind und lassen uns vom Lieben Gott rückwärts wegschieben. Beim "Vorwind-Kurs" ist es genau andersherum: wir fahren quer zu den Wellen, aber diesmal mit dem Bug voraus vom Wahren Wind weg. Beim "Halbwind-Kurs" fahren wir parallel zu den Wellen. Wenn wir aus einem Halbwind-Kurs einen Aufschiesser machen wollen: einfach 90° drehen, bis wir quer zu den Wellen stehen und dem Lieben Gott ins Auge sehen. Beim "Amwind-Kurs" fahren wir etwa 45° zu den Wellen. Bei "Hoch-am-Wind" können wir je nach Schiff noch etwas näher (höher) zum Wahren Wind. Sich zum Lieben Gott hinwenden heisst "anluven". Sich wegdrehen heisst "abfallen".

"Wende" heisst, vom alten Amwind-Kurs 90° drehen bis zum neuen Amwind-Kurs, also 45° zum Wind hin durch den Aufschiesser durch und dann 45° vom Wind weg drehen. Dabei orientieren wir uns wie immer ganz einfach an den Wellen. Was mache ich, wenn ich vom Halbwind-Kurs auf den anderen Halbwind-Kurs gehen will? Ganz einfach: 45° anluven auf Amwind-Kurs, dann eine Wende, 90 °, auf den neuen Amwind-Kurs und anschliessend 45° abfallen auf den neuen Halbwind-Kurs. Insgesamt hat das Schiff dann 180° gedreht und liegt wieder parallel zu den Wellen. Wenn ich jetzt etwa 45° abfalle und schräg zu den Wellen vom Wind weg fahre, habe ich einen "Raumschot-Kurs". Und was ist eine "Halse"? Auch ganz einfach: eine Drehung von einem Raumschot-Kurs auf den anderen Raumschot-Kurs. Also 90° drehen, erst vom alten Raumschot-Kurs 45° abfallen auf Vorwind-Kurs - die letzten 10° etwas vorsichtiger - und dann wieder 45° anluven auf den neuen Raumschot-Kurs.

Und das "Mann-über-Bord-Manöver" für die Prüfung: Abfallen auf Raumschot-Kurs, dabei sich wie immer am Wellenbild orientieren. "Q-Wende": anluven auf Amwind-Kurs, Wende, abfallen auf Halbwind-Kurs. Dann "Beinahe-Aufschiesser": 45° zu den Wellen auf den Fender zu treiben. Oder für die Praxis, wenn wirklich mal jeman/fraud über Bord geht, das "Münchner-Manöver": Anluven auf Amwind-Kurs. Dann "Beidrehen": Wende ohne das Vorsegel freizugeben und das Grossegel fieren. Deutlich Abfallen, bis der Bug auf den Mann / die Frau zeigt. Anluven und unter Luv-Ruder seitwärts zur Unglücksstelle hintreiben.

Wenn wir uns an den Wellen orientieren und mit der Zeit ein Gefühl für Winkel kriegen, ist das alles recht einfach. Dabei müssen wir nicht einen ganzen Kompass im Kopf haben. Es reicht, wenn wir "parallel zu den Wellen", "quer zu den Wellen" und "schräg zu den Wellen" unterscheiden können. Wenn wir einen Kompass an Bord haben, können wir ja auch da mal einen Blick darauf werfen. Vielleicht kriegen wir mit der Zeit sogar ein Gefühl dafür, was es heisst "10° abfallen".

Zum Trimmen

richten wir uns immer nach dem, was vom Wind als Ergebnis wirklich beim Schiff ankommt. Uns interessiert der Scheinbare Wind, also das, was wir im Gesicht spüren. Das Segel ist immer dann richtig getrimmt, wenn der Scheinbare Wind an beiden Seiten jedes Segels gleichmässig vorbei strömt. Und zwar an jeder Stelle des Segels. Das können wir mit "Trimmfäden" ganz einfach sichtbar machen. Da wo die Luft richtig strömt, wird der Faden waagrecht nach hinten geweht. Wenn wir uns vorstellen, das Segel wäre ein Fell, mit Haaren auf beiden Seiten, dann würden bei optimalem Trimm alle Haare waagrecht nach hinten wehen.

Wie man/frau das genau macht wäre ein eigenes Kapitel. Es würde erklären, wieso ein Schiff manchmal träge dahindümpelt und das Nachbarschiff flott vorbeirauscht. Eine Faustregel lautet: der Baum sollte etwa 15° zum Scheinbaren Wind stehen.

Anmerkung für Segellehrer

Natürlich könnte man sich auch bei den Manövern nach dem Scheinbaren Wind richten. Es gibt auch Autoren, die das tun. Dann liegt der "scheinbare Halbwind-Kurs" je nach Stärke des Wahren Windes und der Geschwindigkeit des Bootes bei ungefähr 100°-120° zum Wahren Wind. Die Schüler wähnen sich dann bereits mit einem Kurs von 80° zum Wahren Wind auf einem "scheinbaren Amwind-Kurs". Und wenn sie jetzt zur Wende ansetzen, verhungern sie kläglich mit einem Aufschiesser in den Wind. In der Praxis erstreckt sich der "scheinbare Amwind-Kurs" wegen falscher Segelstellung manchmal von 40° bis 150° zum Wahren Wind. Beim Anlegemanöver beginnen sie sauber aus einem "scheinbaren Halbwind-Kurs". Mit Blick auf den Verklicker glauben sie, mit einer Drehung von 30° einen Aufschiesser in den Wind machen zu können. Aber oh weh, der Scheinbare Wind dreht mit. Und schon knallt das Schiff mit flotter Fahrt auf den Steg. Noch problematischer wird´s dann bei der Halse: Da wird vorsichtig abgefallen, mit konzentriertem Blick auf den Verklicker. Etwa 45° schätzt man. Da sich die ersten 30° fast gar nichts tut, wird man mutiger. Und schon ist es zu spät: plötzlich knallt der Baum herum. Völlige Verwirrung entsteht dann bei komplexeren Aufgaben wie z.B. Mann-über-Bord-Manövern. Da dreht der Verklicker so wirr in der Gegend herum, dass man zu guter Letzt nicht mehr weiss, was der Unterschied von einer Wende und einer Halse ist.

Verstehen kann das keiner. Es sei denn, er sei Ingenieur und habe einen wissenschaftlichen Taschenrechner dabei. Doch selbst dann: wer hat schon den Cosinus-Satz im Kopf und kann ihn auch noch korrekt nach den binomischen Gesetzen umformen?

Da ist doch das mit dem Lieben Gott viel einfacher - oder?!

Markus Bärlocher

 


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