Vom Wirtschaftswunder an den Stadtrand

HZ 20. Dezember 2022  

nicht von den Altstadtfreunden Hersbruck, aber dennoch auf der Homepage, weil dies die Altstadt  betrifft!


Stadtentwicklung  Hersbruck hat sich im Blick auf die Geschäfte gewandelt. Doch warum?

Wirtschaftswunder

HERSBRUCK – „Als ich 1975 meine Lehre begann bei Auto Dannhäuser, gab es in Hersbruck noch viele Autohändler“, erinnert sich Erwin Müller aus Thalheim, „als Vertragshändler ist nur Auto Dannhäuser übriggeblieben“. Und das ist nicht sein einziges Beispiel für sichtbare städtische Veränderungen.
Der 62-Jährige zählt auf, dass man in Hersbruck damals jedes Fabrikat habe kaufen können: „Mercedes beim Scharrer, Simca bei Dannhäuser, Opel bei Kropf, Ford bei Schweininger - später Lotter -, Honda beim Zirzawa, BMW beim Wagner, Fiat beim Lutz, VW Audi bei Wolf, Peugeot bei Amann und Renault beim Koch.“ Und auch bei den Metzgern und Bäckern habe es viel mehr Auswahl gegeben.
      „Wir waren eine ganze Klasse in der Berufsschule nur mit Lehrlingen aus Hersbruck. Damals war es üblich, dass die Stiften für die ganze Belegschaft zum Brotzeitholen gingen.“ Für Müller hieß das: Erst zum Bäcker Neidinger - jetzt Hollederer -, dann zum Metzger Müller hinter der SchellTankstelle und schließlich zum VEGE Pillhofer. Wenn er heute nachrechnet, gab es seinerzeit sieben Bäcker: Neidinger, Hirnigel in der Nürnberger Straße, Distler am Spitaltor, Wendler am Unteren Markt, Erbar (später Trunk) in der Martin Luther-Straße, Angermann in der Schulgasse und der Buberl. Müllers Bilanz heute: Bäcker aus Förrenbach, Thalheim und Pommelsbrunn mit Filialen in Hersbruck.
Das gleiche Bild macht er bei den Metzgern aus: Mit Mertel, Schramm und Gösswein auf der Ostbahn, Kratzer, Ehrensberger, Schwab, Schönert, Müller und Hartmann kommt er auf neun Läden. Nur Letzterer sei noch in Betrieb. Doch warum ist das so? „Zu mir sagte mal ein Metzger, als ich fragte, warum er aufhört: Nur der Wandel ist beständig.“ Und damit hat der Befragte recht, bestätigt Monica Rüthers in einem Beitrag über Stadtentwicklung für die Bundeszentrale für politische Bildung: „Städte sind soziale Organismen, die sich laufend verändern.“ Grund seien „Eingriffe wechselnder Leitbilder oder Modernisierungsschübe“, hat die Professorin für Osteuropäische Geschichte an der Universität Hamburg analysiert.
Dass es in Hersbruck in den 1970ern so viele Geschäfte gab, ordnet sie unter anderem den westdeutschen Wirtschaftswunderjahren zu. Außerdem wurde Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg „bewusst dezentral wiederaufgebaut“. Für die großen Metropolen bedeutete dies, dass sich in Bonn die Regierungsbehörden und die Lobby, in Hamburg und Düsseldorf der Handel, in Köln und München Versicherungen, in München Publizistik und Kultur und in Frankfurt die Finanzen konzentrierten, schreibt Rüthers. Und für die kleinen Städte, dass alles Lebensnotwendige vor Ort blieb oder gar ausgebaut wurde.
Daneben förderte wohl auch ein Leitbild der 1950er und 1970er Jahre den Aufschwung der Hersbrucker Innenstadt, so Rüthers: die „autogerechte Stadt“. Das änderte sich aber mit der Ölkrise 1973, weiß die Historikerin. Ein „neues ökologisches Bewusstsein“ beeinflusste laut Rüthers die westdeutsche Stadtentwicklungspolitik grundlegend: „Straßenprojekte wurden auf Eis gelegt und Innenstädte vom Autoverkehr befreit.“.
Danach setzte sukzessive auch der Wandel in Hersbruck ein. „Die Kehrseite der Verkehrsberuhigung war der Bau von Einkaufscentern an den liefertechnisch besser erreichbaren Stadträndern“, erklärt Rüthers das, was Müller in seinen 62 Lebensjahren beobachtet hat. Damit wird die Veränderung nicht abgeschlossen sein, ist sich die Expertin sicher. Denn: „Heute erhalten Freizeitangebote und die Qualität öffentlicher Räume viel Aufmerksamkeit“ - wie beispielsweise der Obere Markt in Form der geplanten Neugestaltung. Öffentliche Plätze, Parks und Freizeitgelände hätten eine Umverteilungsfunktion: „Sie korrigieren soziale Ungleichheiten. Teilhabe verbessert die Lebensqualität.“

Andrea Pitsch